Leseproben

Inhalt

So fing alles an

 

ChangChun

 

Joint-Venture-Verhandlungen

 

„Was ist, wenn alle in die Stadt wollen?“

 

Mit Bundeskanzler Schröder und den Wirtschaftskapitänen nach China

 

Meine Furcht vor ShenZhen

 

Chinesische Dimensionen

 

Die ersten Schritte

 

Die junge Stadt ShenZhen

 

Leben in Shenzhen

 

Unser Fahrer

 

Fußball in ShenZhen

 

Gan Bei

 

Die Ausstellungen

 

Wie gründe ich am besten

eine Firma in China?

 

Natur im Stadtmoloch ShenZhen

 

Kleinunternehmer

 

Die Angestellten

 

LangLang und ich weihen

neue Konzerthalle ein

 

Ich versuche, Chinesisch zu lernen

 

Im Krankenhaus

 

Börsenhype mit Top und Flop

 

Lärm

 

Zahnschmerzen

 

Die „Hauptstadt der Kriminalität“

 

Selbstmordserie bei Foxconn

 

Olympiade 2008

 

Erlebnisse im Botanischen Garten

 

Kinder bekommen und großziehen

mit Freud und Leid

 

Kurios: eine WM

Mit 33 Mannschaften

 

Das chinesische Neujahrsfest

 

LaoWei spielt nicht nur Fußball

 

Anhang

 

Wozu dieses Buch nicht dient, wozu es aber gedacht ist

(Nachwort, da es kein Vorwort gibt)

Was geschah „nach Redaktionsschluß“?

Widersprüchliche Feststellungen

in Chinabüchern

Einige der handelnden Personen, einige Orte, mit Aussprachehilfe

 

 

Weitere Leseproben

- bei amazon.de, "Blick ins Buch"

- bei buchhandel.de, "mit libreka reinlesen"

So fing alles an

Es ging einfach nicht mehr so weiter. Aus China kamen nur noch Schreckensnachrichten. Hier platzte ein Geschäft, dort lief es mit einer Anlage beim Kunden schlecht, ständig Qualitätsprobleme, ständig Reklamationen, dann plötzlich von einem Tag auf den anderen die Mitteilung unserer taiwanesischen Händlerfirma: „Übermorgen wird beim Kunden ‚ChangHao‘ die Anlage installiert, wer kann kommen? Wieso geht das nicht, wollt ihr keine neuen Kunden?“ Was für eine Anlage bei einem Kunden namens ChangHao, wir kennen den nicht. Wieso wissen wir nichts davon?

 

Mein Vertriebsgeschäftsführer – aber auch unser Verkaufsleiter – flogen so alle drei Monate für fünf bis acht Tage nach China, beide ließen sich von unserem Händler herumfahren und kamen immer mit der gleichen Botschaft zurück: „Unsere Konzepte lassen sich in China nicht umsetzen, wir müssen uns nach den dortigen Bedingungen richten, unser Händler weiß das besser.“ Und das in einer Zeit, in der die Produktion massiv von Europa und USA vor allem nach China verlagert wurde.

 

Ich war es leid. Die Kunden wollen unsere Prozesse nicht so fahren, wie wir sie entwickelt hatten, und beklagen sich dann über Qualitätsprobleme? Es werden Anlagen aufgebaut, die wir nicht kennen, die wir nicht mit dem Hersteller konzipieren konnten, und dann soll unser Prozess darin laufen können? Keiner unserer Vorschläge, die in Europa richtig sind, die ich in Korea umsetzen konnte, sollte in China richtig sein, chinesische Kunden nehmen unsere Vorschläge nicht an? Ich lehnte es ab, dies zu glauben.

 

Ich hatte unseren Beirat vor einiger Zeit schon einmal mit den Problemen konfrontiert, die ich mit meinem Vertriebs-Geschäftsführer hatte, und angedeutet, dass ich seine Entlassung beantragen würde. Das tat ich nun, und zwei Wochen später war ich wieder in China. Vier Jahre lang war ich nicht hierhergekommen.

Mit Bundeskanzler Schröder und den Wirtschaftskapitänen nach China

Am 11.9.2001 fahre ich in Wisconsin mit einem Leihwagen vom Kranichschutzgebiet Necedah National Wildlife Refuge in die nächste größere Ortschaft mit FedEx-Station, um einige von mir gelieferte Apparate, die wir im Schreikranich-Auswilderungsprogramm brauchen, nach Deutschland zur Reparatur zu schicken. Diese Aktivität hat nichts mit meinen chemischen und geschäftlichen Arbeiten zu tun, ich bin „nebenher“ Kranichforscher und beteiligt am Programm zur Rettung der Schreikraniche in Nordamerika.

 

Der Sender „National Public Radio“, den ich wegen der fundierteren Nachrichten und Analysen und wegen der klassischen Musik immer einstelle, teilt mit, ein Flugzeug sei in einen Turm des World Trade Centers geflogen, es brenne, es herrsche Chaos. Ich fahre im nächsten Dorf rechts ran, telefoniere von einer Telefonzelle aus mit meinen Finanzberatern.

 

Während des Telefonates fliegt das zweite Flugzeug in den zweiten Turm. Jeder Leser weiß, wie es weitergeht. Nur ich wusste damals nicht, wie ich weitermachen sollte – die Finanzierung der Firma stand auf Messers Schneide, unsere Kapitalrücklagen (in Aktien und anderen Finanz-Anlagen) schmolzen dahin wie der berühmte Schnee in der Sonne.

 

Noch während ich in Wisconsin im Feuchtgebiet fernab aller Geschehnisse auf die Möglichkeit warte, nach Deutschland zurückzufliegen, landet auf meinem verwaisten Schreibtisch in meinem Büro in Deutschland ein Schreiben des Bundeskanzleramtes, das sicherlich automatisch abgeschickt wurde, ohne die aktuelle Lage zu berücksichtigen: Bundeskanzler Schröder lädt mich ein, ihn im November auf seiner nächsten Reise nach China zu begleiten. Mich? Jetzt?

 

Ja, ich hatte dem Bundeskanzler irgendwann geschrieben, hatte die Situation in ChangChun geschildert (ohne den unglückseligen Bambus zu erwähnen), aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass irgendetwas daraus folgen würde. Ich wollte eigentlich nur jemandem auf der Regierungswolke, die von all den Chancen mit China phantasieren, etwas aus dem Leben des kleinen Mannes erzählen, der ein unbedeutendes Joint Venture starten wollte und dann vom Provinzgouverneur besoffen gemacht werden sollte (was aber fehlschlug), erzählen. Nun sollte ich mit all den Spitzenpolitikern und Konzernbossen nach China fahren?

 

Ich lege die Einladung erst einmal zur Seite. Habe ich überhaupt das Geld, die Ruhe, die Zeit, diese Reise mitten im Chaos der Weltgeschichte und mitten im Chaos der Firmen­finanzierung zu unternehmen?

 

Natürlich fliege ich am Ende doch mit. Die Neugier und der Abenteurergeist siegen über die trockene Vernunft. Vielleicht kann ich ja sogar etwas lernen?

 

Im November 2001 sitze ich im zweiten Regierungsflugzeug, im ersten fliegt Schröder mit Journalisten und diversen Politikern, im zweiten Wirtschaftsminister Müller und eine 50-köpfige Wirtschaftsdelegation mit 49 ­Wirtschaftskapitänen, die Rang und Namen haben, und einem Niemand – mir.

 

Mit den Kapitänen der deutschen Großindustrie stehe ich auf dem Roten Teppich in der Großen Halle des Volkes, als Schröder von Ministerpräsident Zhu RongZhi empfangen wird, mit allen protokollarischen Ehren, wie man es sonst allenfalls im Fernsehen sieht. Es ist schon beeindruckend, aber natürlich diplomatische Show.

 

Auch das folgende Abendessen im Riesenrestaurant der Großen Halle des Volkes ist ein Erlebnis. Ich überreiche Ministerpräsident Zhu RongZhi und Kanzler Schröder jeweils eine CD mit Kranichfotos und Kranichrufen aus aller Welt, die ich aufgenommen hatte, lasse die über die Ländergrenzen hinweg ziehenden Kraniche mit ihren Rufen als Symbol der Völkerverständigung sprechen.

 

...

Im Krankenhaus

...

 

Nur wenige Monate später ereilt mich eine Verletzung beim Fußball, an einem Samstagabend beim Spiel unter Flutlicht. Unser linker Verteidiger spielt auf einer Höhe von nur elf, zwölf Metern nahezu unbedrängt einen vollkommen sinnlosen Querpass nach rechts, wo nicht einmal unser rechter Verteidiger rumdöst, auch kein gegnerischer Spieler. Es war keine Rückgabe zu mir, es war kein Querpass auf unseren Libero (der etwa zwei Meter außerhalb des 16ers steht), es war einfach Unsinn. Ich laufe sofort los, muss also dem Ball hinterherlaufen, mir entgegen kommt ein gegnerischer Stürmer, der dem Ball entgegenlaufen kann, sich also im Vorteil wähnt a) weil ihm der Ball von schräg vorn entgegenkommt, b) weil er nur halb so alt ist wie ich und sicher denkt „den YeYe
(= ‚Opa‘) spiel ich locker aus“ (der Stürmer kennt mich, ich kenne ihn als extrem schnellen und trickreichen stürmischen jungen Mann).

 

Opa YeYe ist aber schnell, besonders wenn er das Tor verteidigen will, und er hat heute schon einige Bälle heldenhaft gehalten. Diesmal ist Opa YeYe eine Zehntelsekunde eher am Ball als der Stürmer, und dort, wo vor einer Zehntelsekunde der Ball war (aber von mir weggeschossen wurde), ist nun mein Unterschenkel, die Innenseite, und kurz darauf zuerst der Stürmerschuh, dann ein stechender Schmerz unterhalb der Kante meines Schienbeinschoners.

 

Minutenlang kann ich nicht einmal aufstehen vor Schmerzen. Dann bemerke ich aber, dass nichts gebrochen zu sein scheint, ich stehe auf und (erster Fehler) spiele noch ca zehn Minuten unter Schmerzen weiter bis zur Pause.

 

...

 

Am Wochenende rufe ich Fang ShiFu an, meinen Fahrer, an: Ich möchte am Montag früh ins Krankenhaus, mich untersuchen lassen. Er protestiert, als ich ihm sage, ich wolle ins SheKou Volkskrankenhaus: „Das ist nicht gut genug, du musst ins Zentralkrankenhaus! Ich habe auch einen Freund dort, der wird uns helfen.“ Nun telefonieren wir im Dreieck mit SunLi, weil ich nicht alles sofort verstehe.

 

SunLi ist beruhigt, dass ich nicht allein ins Krankenhaus gehe, obwohl Fang ShiFu alles andere als ein Übersetzer ist, aber da ich ihm langsam erkläre, was ich möchte, und er geduldig nachfragt, manchmal per SMS oder Telefon bei SunLi, hilft er mir mit richtigem Chinesisch anschließend bei den Chinesen weiter.

 

Am Montag fahren wir früh los, wir wollen „vor dem Massenandrang“ im Krankenhaus sein, es sind ca 40 km zu fahren. Wir haben zweierlei unterschätzt: erstens den Verkehr, zweitens, dass der Massenandrang auch vor dem Massenandrang dort sein wollte, so dass schließlich doch alle schon vor uns da waren, bevor wir früh eintrafen.

 

Der Verkehr und die zusätzlich erforderliche Zeit, die man braucht, um schließlich im Krankenhaus selbst dorthin zu gelangen, wo man eigentlich hin will, ermöglichte es mir, Folgendes im Gespräch mit meinem Fahrer zu verstehen: Sein Freund ist nicht, wie ich dachte, Arzt, sondern Elektriker; hhhmmm (wie kann mir ein Elektriker im Krankenhaus helfen?); er ist sein Freund, weil seine 20-jährige Tochter aus erster Ehe einen Freund hat, dessen Vater nun passenderweise ebendieser Elektriker ist.

 

Das Krankenhaus entpuppt sich als Kleinstadt hinter Mauern, die Zufahrt ist eine erste Geduldsprobe, wer die nicht meistert, hat offenbar kein Recht, sich behandeln zu lassen. Auf dem Krankenhausgelände liegen Dutzende Gebäude, zumeist 20 – 30 Jahre alt, also aus der Frühzeit von ShenZhen. Die Straßen sind schmal und verstopft, keine Chance, hier einen Parkplatz zu finden.

 

Fang ShiFu wird wohl im Kreis fahren (bzw. eher „schleichen“) müssen, während ich mit dem Elektrikerfreund durchs Krankenhaus irren werde, befürchte ich. Ich hätte in das mir bekannte Krankenhaus gehen sollen … Fang ShiFu telefoniert aktiv mit seinem Freund, ich verstehe, dass er sich entschuldigt, dass es länger dauerte, weil …, und an welchem Gebäude wir nun sind und bitte welche Straße rechts und links zu fahren sei, um Gebäude F20 zu finden.

 

Plötzlich halten wir an einer Einbiegung, dort sind zur Absperrung „Verkehrsleitkegel“ (Pylonen) aus Kunststoff aufgestellt, ein Wächter eilt herbei, räumt drei Pylonen zur Seite, wir fahren ein, jemand tritt an unser Auto heran und begrüßt Fang ShiFu herzlich – offenbar der Elek­triker! So ist es. Wir haben eine unsichtbare VIP-Karte und einen vorreservierten Parkplatz.

 

Nun gehen wir durch verschiedene Straßen und Gebäude und Gänge, erreichen die Lobby, wo man sich anmelden und die Grundgebühr zahlen muss, nein: müsste, denn wir durchqueren sie nur (allein dies ist mühevoll, weil Hunderte von Menschen hier stehen, warten, drängeln) und quetschen uns in einen der nächsten ­erreichbaren Aufzüge.

 

Oben erreichen wir eine Tür, vor der ein Wächter steht und auf der klar und deutlich (in sogar für mich gut lesbaren und zweifelsfrei verständlichen chinesischen Schriftzeichen) steht, dass man hier nicht hineingehen darf. Der Wächter lässt uns ein, nachdem er mit dem Elektriker ein paar freundliche Worte gewechselt hat.

 

Der Elektriker-Freund führt uns an Krankenzimmern vorbei in ein Arztzimmer, vier Ärzte, sechs Schwestern. Er spricht einen Arzt an, der offenbar der Chef ist, Song DeLian. Aber die anderen Ärzte und Schwestern und unser ­Elektriker-Freund nennen ihn „Da Song“.

 

Der Arzt schaut sich mein Bein an, murmelt, runzelt die Stirn, fragt mich, wie es dazu kam, ich erkläre ihm auf Stammelchinesisch den Ablauf. „Habe ich dich nicht vor ein paar Wochen gesehen? In Xia Sha Cun, in meinem Heimatdorf? Hast du da nicht fotografiert?“ Ja, das stimmt, wieso hat er mich gesehen und wiedererkannt?

 

Er hatte mich aus dem Augenwinkel gesehen, als ich herumlief, die Karten oder MaJiang spielenden Menschen fotografierte, das passiert nicht alle Tage, wie er meint, und sehr selten kommen Ausländer in das Dorf. Wir plaudern ein wenig (so weit mein Chinesisch reicht) über das „Dorf“, über seine Eltern, seine Herkunft.

 

Nach wenigen Minuten entscheidet er, dass ich eine Ultraschall- und eine Röntgenuntersuchung machen lassen sollte. Dazu müssen wir nun in die entsprechenden Abteilungen gehen und Vorkasse leisten. Zuerst Ultraschall. Wir kommen in eine Etage, in der etliche Dutzend Menschen stehen, warten, drängeln und ihre Zahlung abliefern wollen. Das kann mich viel Zeit kosten …, nicht aber mit Hilfe meines Fahrers Elektriker-Freundes. Ich gebe ihm das Geld, er geht von der Seite an den Zahlungsschalter heran, redet durch die unterbrochene Glasscheibe auf die „Schwester“ ein. Der „Fremde“ (den er dabei erwähnt, er meint mich), hat Probleme, ihm müsse geholfen ­werden, das verstehe ich so weit.

 

Er hält mein Geld suggestiv durch die Spalte im Glas, nach zwei, drei anderen Patienten hat er es geschafft, zwanzig Minuten oder so ­gewonnen.

 

Die Ultraschalluntersuchung verläuft wenig spektakulär, das Ergebnis ist „Blut-Schwellung“, wenn ich es richtig verstehe. Die Schriftzeichen dafür kenne ich. Also eine Blase, in der sich Blut angesammelt hat, also ein allerdings gewaltiges Hämatom. Es ist ziemlich hart, nicht so weich, wie die Schwellung vor ein paar ­Wochen am Ellbogen.

 

Als nächstes also Röntgen. Wir kommen in die nächste Etage, die ist schwarz vor Menschen. Hier werde ich nie drankommen. Unser Elektriker drängelt sich zum Schalter durch und schon ergibt sich ein anderes Bild: Er kennt den Mann dahinter offensichtlich gut, sie schwatzen, mein Geld für die Bezahlung der Röntgenuntersuchung verschwindet sofort hinter der Glasscheibe. Und ich soll nicht hier warten, erklärt er mir, sondern aus der Lobby herausgehen, nach links, dort vor der Tür warten. Die Tür ist verschlossen. Er verschwindet.

 

Nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür von innen, unser Elektriker erscheint und lächelt. Wie hat er denn das gemacht?

 

Nun bin ich im Inneren der hochmodernen Röntgenabteilung, komme sozusagen von hinten ins Zentrum. Jeder Raum, die ich alle vom Innenflur aus sehen kann, ist vollgestopft mit neuesten Geräten. Wir gehen in einen Raum, von dem aus der Röntgenarzt alles leitet. Jemand liegt auf dem Untersuchungstisch, den können wir natürlich schlecht von dort wegschicken (obwohl unser Elektriker mir den Anschein macht, als würde ihm selbst das durch den Kopf gehen). Aber nachdem die laufende Untersuchung beendet ist, bin ich schon dran. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil draußen weit mehr als 100 Leute warten, die ich einfach von hinten überrollt habe, mit Hilfe des ­Elektrikers …

 

...

LaoWei spielt nicht nur Fußball

Der Leser könnte meinen, das Buch beschreibe das Leben als LaoWei in China mit den Beobachtungen aus der privaten und Wochenendzeit bereits annähernd vollständig, aber dem ist nicht so. 80 % der Zeit in China sind von beruflichen Anforderungen diktiert. Ein normaler Arbeitstag in China beginnt für LaoWei zwischen 6 und 8 Uhr morgens und endet nicht selten nach Mitternacht. Es ist aber gar nicht die Absicht, eine Art Chronik von LaoWeis Leben und Arbeit in China zu liefern, sondern Beobachtungen und Gedanken über China. Dazu ist die berufliche Tätigkeit weniger geeignet und für den Leser eher sterbenslangweilig, obwohl sie für den Chemiker LaoWei hingegen enorm spannend ist. Aber natürlich lassen sich aus dem beruflichen Alltag auch interessante Dinge über China lernen.

 

Nahezu jeden Tag gibt es einen oder mehrere Gesprächstermine mit Kunden oder Geschäftspartnern, selten, vielleicht ein- oder zweimal im Monat, gibt es einen „Bürotag“, der entweder in der Wohnung in ShenZhen oder im Büro der Firma stattfindet. Noch viel seltener gibt es einen freien Tag, wenn, dann nur an chinesischen gesetzlichen Feiertagen, und selbst dann ist nicht „frei“, sondern es wird nach- und ­vorgearbeitet.

 

...

 

Mit der Zeit bekommen unsere Kunden mit, dass ich „immer“ oder fast immer da und verfügbar bin, dass ich auch spät abends bis nachts über ein Problem diskutieren kann; dass ich auch flexibel am nächsten Tag oder in der nächsten Woche noch einmal kommen kann, wenn das Problem nicht gelöst ist. Sie lernen, dass meine technischen Aussagen verlässlich sind, dass unsere Prozesse verlässlich sind, wenn die von uns vorgegebenen Parameter eingehalten werden, dass meine und die Empfehlungen unser Techniker, sowohl der deutschen wie der chinesischen, hilfreich und zutreffend sind. Sie bekommen mit, dass ich nach und nach etwas Chinesisch sprechen kann, und Schritt für Schritt entwickelt sich

 

VERTRAUEN.

 

Dieses Vertrauen ist kein flüchtiges, schmieriges, auf gemeinsamen Sauf- oder Bordelltouren oder gar aufgrund von Bestechung erkauftes Vertrauen, es ist echtes, beständiges, aufgrund von technischer und persönlicher Verlässlichkeit entstandenes Vertrauen, so wie es Chinesen, egal ob Festland-, HongKong- oder Taiwanchinesen, untereinander gewohnt sind und fordern.

 

Ein wesentliches Element dieses Vertrauens ist die Erkenntnis: „Dieser Deutsche hat Ausdauer, er lässt sich nicht abschütteln, nicht abspeisen.“ Chinesen haben dafür einen Begriff: 吃苦耐劳chī kǔ nài láo (die Akzente zeigen die Betonung der Silben an), etwa: „(auch etwas) Bitteres essen und harte Arbeit durchstehen (können)“. Das kann ich.

 

Die Chinesen haben Tausende, wenn nicht Zehntausende von Sprichwörtern zu allen Lebenslagen. Zwei charakterisieren sehr deutlich ihr Verhältnis zur Entwicklung von Vertrauen: 路遥知马力 und 日久见人心; in Lautschrift werden sie so geschrieben:
lú yáo zh
ī mǎ lì, fast wörtlich übersetzt, (erst) nach langer Strecke kennt man die Kraft des Pferdes; das zweite: rì jiǔ jiàn rén xīn, (erst) mit der Zeit lernt man das Herz eines ­Menschen kennen. Diese Vorsicht, Vertrauen erst über einen langen Zeitraum zu entwickeln, ist Teil der chinesischen Kultur.

 

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Im Gegenteil: Ich glaube, dass Bestechung das Geschäft spätestens mittel- oder langfristig vergiftet, alle misstrauen einander, jeder wird erpressbar. Das ist nicht nachhaltig, auch in China nicht. Es ist das Gegenteil von ­Vertrauen.

   

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